Heiliger Gesang

Heiliger Gesang und Orthodoxie
von Archimandrit Johannes

Sinn und Wesen des heiligen Gesangs in der orthodoxen Kirche

Christliche Orthodoxie ist die Kultur der angemessenen Haltung des Menschen vor Gott, der harmonischen, rechten Gottesbeziehung und -Verehrung.

Gott ist unvorstellbar und unaussprechlich, Er offenbart sich in Seinem Ewigen Wort, in Jesus Christus, in dem wir zugleich das Antlitz des Vaters sehen. Nach orthodoxem Verständnis ist der Gottesdienst sinnlicher wie geistiger Ausdruck vollkommener Gottesverehrung, lebendige Gott-Begegnung und geistige Übung, wunderbares „Liebesspiel zwischen Mensch und Gott“.

Im orthodoxen Gottesdienst wird nur gesungen. Instrumente werden nicht gebraucht, da im heiligen Kult nicht ein von Menschenhand gemachtes Instrument, sondern der edelste, von Gott selbst erschaffene Klangkörper erklingen soll: die menschliche Stimme.

Der ursprüngliche Gesang der alten Kirche ist Übungsweg und Symbol, insofern ewige geistige Wirklichkeit und zeitliche irdische Gestalt in eins gehen. Wie der Gottesdienst als Ganzes, so hat auch der sakrale Gesang sowohl einen asketisch-mystagogischen als auch einen offenbarenden, verkündigenden Sinn. Der Begriff „Theourgie“, zu deutsch etwa: „Gotteswirkung“, umgreift beide Aspekte.

Klar und deutlich tritt der theourgische Charakter des sakralen Gesangs hervor, wo er aller weltlichen, irdischen Funktionalität enthoben und also reine, ursprüngliche Musik, sozusagen die „Urmusik“ ist. Es geht hier nicht um eine abstrakte Idee von Musik, sondern um ein synergetisches Geschehen zwischen Gott und Mensch. Der echte Choral ist vom Heiligen Geist gewirkt und geboren aus dem Ewigen Wort, welches im Anfang war, durch welches alles erschaffen ist, welches bei Gott und Gott selber ist. Es geht nicht darum Menschen „zu gefallen“ oder „Gefühle zu wecken“ und schon gar nicht darum „modern“ zu sein. Der ursprüngliche, meist einstimmige sakrale Gesang der Kirche, der sich stets vom Grundton aus und diesen sowie andere Zentraltöne umspielend aus dem heiligen Wort entwickelt, ist die zur sakralen Kulturform entfaltete Art und Weise innigsten Betens. Die Seele lauscht und bewegt sich im Wehen des Geistes und schmiegt sich in heiliger Schau dem ewigen Gesang der Engel, den Gedanken, Kräften und Urworten Gottes an. Es gilt, die ewigen Urbilder so rein und klar wie irgend möglich wiederzugeben. Diese Reinheit entspricht ihrer allem Weltlichen enthobenen, heiligen und heiligenden Macht. Erst in Folge dieser Geist-Unmittelbarkeit und Reinheit treten als Wirkung des sakralen Gesangs auch wieder Gefühlsqualitäten auf, aber hier als gereinigte und reinigende.

So überschreitet der heilige Gesang die Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit. Vom heiligen Schweigen und Lauschen im Angesicht Gottes her kommend, tritt er in die reinste und klarste Ausdrucksform geistbewegter „Glossolalie“ („Zungenrede“) über. Von göttlicher Gnade und Kraft erfüllt, wird er zum irdischen Abbild und Widerhall des ewigen Gesangs der Engel. Er ist nicht „von Menschen gemacht“, sondern in geistiger Schau der Urbilder zu energetischer und akustischer Gestalt geboren. Er spricht direkt zur Geistseele. Diese urchristliche Gesangsart nennen wir Choral.

Orpheus und Christus in der heiligen Überlieferung

Die hohe Kunst der Musik beinhaltet seit jeher das Wissen um ihre mantischen Dimensionen. Den Kirchenvätern und gebildeten Mönchen waren jene geistigen Traditionen der Antike wohlvertraut, die man erst später die „hermetischen“ nannte. So nimmt es nicht wunder, daß in frühchristlichen Wandmalereien oft der mythische Sänger Orpheus als ein Vorabbild Christi dargestellt wurde. In den Orpheusmythen sind wesentliche archetypische Motive der Geschichte Jesu Christi vorgebildet. Deshalb haben die frühen Kirchenväter, wie z.B. Clemens von Alexandria, Orpheus als Vorabbild Christi angesehen. Orpheus vermochte, so erzählt der altgriechische Mythos, mit der Macht seines Gesangs Tiere, Pflanzen und sogar Steine zu rühren. Der Kirchenvater Clemens von Alexandria sieht hier die entscheidende Analogie zu Christus, der Tote zum Leben erweckt und aus Steinen Menschen macht „sobald sie nur Hörer des Gesangs geworden waren“. Indem Orpheus durch seinen Gesang der belebten und der unbelebten Materie tiefste Rührung entlockt, hebt er sie auf menschliches Empfindungsniveau. Das Evangelium beschreibt einen analogen Vorgang auf höherer Ebene. Jesus ruft durch Sein Wort, das Er selbst ist, den irdischen Menschen aus dem Tod zum Leben. Die Auferweckung der Toten ist Erweis der göttlichen Schöpfermacht, die Jesu als wahrem Menschen und wahrem Gotte innewohnt, aber auch Gleichnis. Nach der geistigen Lesart der Bibel ist der „normale“, unerleuchtete, geistig unwissende Mensch einem Schlafenden, Blinden oder Lahmen gleich. Vom Standpunkt des in ihm angelegten Urbildes her befindet er sich noch auf der Entwicklungsstufe eines toten Steines. Erst das zum Geist erwachte Menschsein, zu dem wir gleichwohl von Anfang an berufen und geschaffen sind, hat ewige Seinsqualität. Die Erweckung der Toten in den biblischen Berichten ist daher immer zugleich Bild und Gleichnis für die geistige Neugeburt aus Wasser und Geist, von der Jesus bei Nikodemus spricht. Der heilige Athanasios von Alexandria sagt: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde“.

Vergottung ist bis heute das zentrale Tema orthodoxer christlicher Asketik und Spiritualität. Diese wesenhafte, im Sein und Werden sich verwirklichende Annäherung an Gott bis hin zur Verähnlichung mit Ihm, das sind die großen Früchte des orthodoxen mystischen Weges. Es ist der Weg der hohen Gottesminne.

Gesang der Engel

Vor dem Hintergrund der mystischen Theologie der frühen Kirchenväter ist der heilige Gesang der Kirche zentraler Träger des Kultmysteriums. Deshalb waren die Kirchen- und Mönchsväter, wie Ambrosius von Mailand, Efraim der Syrer, Dionysios, Sabbas von Jerusalem, Johannes von Damaskus, später Symeon der neue Theologe, Romanos der Melode, Johannes Kukuselis in der Lawra auf Athos und unzählige andere bis auf den heutigen Tag, immer zugleich auch heilige Dichter und Sänger. In ihrem Gesang ist das Ewige Wort, Christus selbst, lebendig; er wirkt aus der erlösenden und schöpferischen Kraft und Gegenwart des Heiligen Geistes. Die Hymnen und die Art und Weise des Gesanges müssen den asketisch-geistigen Voraussetzungen der Theourgie und der orthodoxen mystischen Überlieferung entsprechen und angemessen sein. Daher reicht es nicht aus, wenn der Hymnograph und Sänger „nur“ musikalisch geschult ist, sondern er muß in gleicher Weise und in gleichem Maße (!) durch die Übung des geistigen Gebetes gereinigt sein und ein Gespür für die urbildlichen Wirkkräfte entwickelt haben.

Als Urbilder bezeichnen wir die ewigen Ratschlüsse und schöpferischen Gedanken Gottes, durch welche alles Seiende geworden ist und wird, und in denen der Maßstab jeglicher Vollkommenheit ruht. Diese Urbilder sind geistig, d.h. transzendent, höher als alle irdische Vernunft, nur dem Geist, der geistigen Vernunft zugänglich. Sie sind mit der irdischen Vernunft, also rationaliter, gedanklich nicht faßbar; sie erschließen sich aber unmittelbar der geistigen Schau. Sobald sie irdische Gestalt gewinnen, im Zusammenhang unseres Themas hier also im betend gesungenen Hymnos oder Psalm, entfalten sie ihre Wirkmächtigkeit auch nach außen, als Klang in Raum und Zeit. Insofern ist der liturgische Gesang in gewissem Sinne auch Ikone, geht in seiner symbolischen Wirkmacht vielleicht sogar noch über das gemalte Bild hinaus. Wie dem auch sei, in jedem Falle soll das Abbild dem Urbild so nahe wie möglich kommen und die geistige Wirklichkeit und Kraft in die sinnliche Welt hinein gestalten. Das Abbild ist zunächst Hieroglyphe, Rune, wirkmächtiges heiliges Zeichen. Wo die geistige Dimension hinzu tritt, wo sowohl der empfangende Mensch durch geistige Reinheit geöffnet als auch die wirkende göttliche Gnadenkraft des Heiligen Geistes gegenwärtig ist, da ist das Abbild von der Gnade und Kraft Gottes selbst erfüllt. In diesem Zusammenhang ist die Lehre von den göttlichen Energien von großer Bedeutung, wie sie in der orthodoxen christlichen Tradition seit jeher gegeben war und wie sie später der heilige Kirchenlehrer Gregor Palamas formuliert hat. Der hl. Gregor Palamas versteht diese Wirklichkeit pneumatologisch, d.h. als Einwirkung und Einwohnung des Heiligen Geistes. Im Kult der Kirche zielt die Einwirkung des Geistes auf Erkenntnis und Empfängnis des Ewigen Wortes Gottes. Die Abbildung des ewigen Gesangs der Engel im heiligen Gesang der Kirche ist ein uralter Topos christlicher Liturgik. Dies ist keineswegs bloß metaphorisch zu verstehen, wie es im Westen üblich geworden ist. Der Gesang der Engel, die am Thron Gottes das ewige Lob darbringen, ist Urbild des Chorals im geistig ontologischen Sinne. Daher jene Reinheit und transzendierende Kraft, die wir unwillkürlich spüren, wenn wir dem echten Choral begegnen, und die der moderne, verweltlichte Menschen zunächst als faszinierende „Fremdheit“ oder „Weltenferne“ wahrnimmt. Wie das Melos des Chorals immer um den Ison kreist, von diesem her sich entfaltet und in ihn zurückkehrt, so zentriert dieser Gesang unsere Seelenkräfte im Herzen, unserer geistigen Mitte, und öffnet dort unser geistiges Wahrnehmungsvermögen. Der heilige Gesang hat für die geistige Schau einen geradezu initiatorischen Charakter, in dem Maße jedenfalls, als der Mensch überhaupt geistig geöffnet ist.

Wort, Logos und Geist im Choral

Die musikalische Form des Chorals entwickelt sich aus dem gebeteten Wort. Das ist auf mehreren Ebenen zu verstehen: 1. der sprachlichen, 2. der geistigen, die wir die „urbildliche“ nennen, und 3. auf derjenigen des Logos, des Ewigen Wortes Gottes selbst.

Die konkrete Melosbildung folgt dabei zunächst den natürlichen Betonungen und Rhythmen, der syntaktischen und architektonischen Struktur der Sprache. Darüber hinaus folgt sie den sinnhaften Bewegungen des heiligen Wortes und deren Widerhall im Bewußtsein der geisterkennenden Wesen.

Bereits die Hymnen und Psalmen, die dem Choral als Texte zu Grunde liegen, sind oft hohe mystische Poesie. Deren geistiger Sinn erschließt sich der geistigen Schau, aus der sie geboren sind und die sie wiederum im Hörenden zu erzeugen suchen. Geistigen Sinn nennen wir den vorsprachlichen, oder besser übersprachlichen Gehalt dieser Texte, jene unmittelbare Einwirkung der göttlichen Gedanken in den menschlichen Geist, die sich dann in einer zweiten Stufe mittelbar, gewissermaßen gebrochen im Prisma menschlichen Erfassens und menschlichen Ausdruckes, äußert und Gestalt erlangt. So ringt denn schon die Sprache an der Grenze der Aporie um den wahrsten möglichen Ausdruck des unsagbaren Mysteriums, und also entsteht mystische Poesie.

In der gleichen Weise und aus denselben Quellen der urbildlichen Ebenen, oder mit einem anderen Ausdruck: aus den himmlischen Sphären, schöpft der Choral. Da er als vorsprachliches oder übersprachliches Medium sich unmittelbar den geistigen Energien anzuschmiegen vermag, bzw. selbst Bild und Vergegenwärtigung ihrer kreisenden Bewegungen ist, gewinnt die liturgische Poesie, die ja selbst Sprache, Wortgestalt des unsagbaren Urwortes ist, im Melos des Chorals ihre sinnliche Geistgestalt und urbildliche Erhöhung.

Im cherubischen Hymnos der göttlichen Liturgie des heiligen Johannes Goldmund (Chrysostomos) heißt es denn auch geradezu programmatisch:

„Himmlische Scharen der Cherubim bilden wir im Mysterium ab,
und singen der Leben spendenden Dreiheit den dreiheiligen Hymnos,
all irdische Sorge lasst fahrn dahin“ ...
„den König des Alls zu empfangen, geleitet in den Kreisen der Engel unsichtbar.
Alleluja, alleluja, alleluja“

oder an einer anderen Stelle heißt es von Gott:

„... den die himmlischen Mächte in heiligen Kreisen schwebend umgeben ...“.

Dabei ist stets der Aspekt der mystischen Erkenntnis im Blick. So heißt es zum Beispielt in den sehr alten Dreifaltigkeitshymnen zu Beginn des Orthros:

„Verkörperte Gestalten der überkörperlichen Mächte führen uns zu geistigem Bewußtsein hin,
und wir empfangen die Erleuchtung
im dreiheiligen Gesang der dreigestaltigen Gottheit da wir rufen:
heilig, heilig, heilig bist Du o Gott.“

Der kirchliche Hymnograph im traditionalen Verständnis ist kein Komponist im landläufigen Sinne, sondern eher einem Geburtshelfer geistiger Kräfte vergleichbar. Er hat Anteil am Mysterium der allheiligen Gottesgebärerin Maria, die das Ewige Wort Gottes vom Heiligen Geist empfangen und dann im Fleische geboren hat. Analog führt der Hymnograph das Ewige Wort Gottes auf seine Weise zur Gestalt. So wie die geistgeborene liturgische Poesie aus dem unsagbaren Ewigen Wort Gottes schöpft, so wie die Ikonenmalerei neben den Zeugnissen der historischen Überlieferung immer auch von der Schau der himmlischen Gestalten lebt, so lauscht der heilige Hymnograph dem Gesang der Engel, dem Klang der himmlischen Sphären.

Dieses „Lauschen“ ist kein akustischer Vorgang, sondern wiederum geistige Schau, hier als ein zärtliches wechselseitiges Einschmiegen der Bewegungen und Kräfte der Seele und des göttlichen Logos, das Liebesspiel der göttlichen Weisheit im Menschen mit dem immer wieder herandrängenden, sich entziehenden und wiederkehrenden Gott.

Ein Hymnos ist umso vollkommener, je mehr er ein Widerhall des ewigen Gesanges der Engel ist. Deshalb ist der Choral nach den Gesetzen der geistigen Erkenntnis ein wahres, echtes Symbol.

Gesang als Mystagogie

In der gesungenen Liturgie gilt es, anhand der aufgezeichneten Melodien die geistigen, sowie die daraus erwachsenden rationalen und emotionalen Dimensionen des heiligen Wortes zu aktivieren. Den Sängern wird in einem hohem Maße Musikalität, Intuition und Geistigkeit abverlangt, damit die ursprüngliche Hochstimmung der Schau sich auf die Hörenden überträgt und sie, wenn sie denn dafür geöffnet und bereit sind, ebenfalls zu einem geistigen Erfassen des Sinnes und einem Erspüren und Ahnen der Urbilder hinaufführt. Der ganze Kultus der orthodoxen Kirche ist Mystagogie, d.h. Hinführung zum ewigen, unsagbaren Mysterium; der orthodoxe Tempel ist mystagogischer Raum. Raum und Zeit werden transzendiert, auf die Ewigkeit hin geöffnet im heiligen Geschehen der Theourgie. Der heilige Gesang bildet den Klangraum in der Zeit, in welchem Theourgie und Mystagogie sich entfalten.

Auf diese Weise wird das liturgische Singen zu einer einzigartigen, unendlich kostbaren geistig-asketischen Übung. In vielen Klöstern des Heiligen Berges Athos wird außerordentliches Gewicht darauf gelegt, daß möglichst alle jungen Mönche den Choralgesang erlernen und aktiv beherrschen. Man weiß dort noch um die Erfahrungstatsache, daß die rechte Art des liturgischen Singens zugleich eine Einübung in die rechte Art des geistigen Betens bedeutet.

Melosbildung im Choral

Das Melos des Chorales wird aus kleineren Figuren, den „Gesten“ oder „Neumen“ gebildet, welche ihrerseits aus mehreren Tönen bestehen. Jede der acht Kirchentonarten (Modi) besitzt eine Reihe charakteristischer Strukturprinzipien und Wendungen. All das läßt sich wie die Wörter, Silben und grammatikalischen Strukturen der Sprache wiedererkennen. Die „Gesten“ bilden den „Wortschatz“ des Chorals. Sie werden auch als „Neumen“ bezeichnet, wie die graphischen Zeichen, mit denen man sie aufschreibt, und welche ihrerseits aus den Gesten entstehen, mit denen sie der Chorführer mit der Hand in die Luft zeichnet (Cheironomie).

Den Neumen wohnt eine eigene Symbolik inne, so daß es keineswegs unbedeutsam ist, wo und wann welche Neume im Melos erscheint. Des weiteren gibt es, analog zur Sprache, bestimmte Gesetze, die eine Art melosbildender Syntax und Grammatik darstellen, deren Kenntnis und Beachtung die Qualität des Gesanges ausmachen.

Über allem steht das Gesetz der All-Harmonie, der wohlgeordneten Übereinstimmung von Urbild und Abbild, und des rechten Zusammenwirkens der geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte. Nach diesen Prinzipien wird durch den Geist unmittelbar aus dem Wort das Melos entfaltet. Davon sind die mittelbaren, eher schulmäßigen Verfahren der traditionellen Choralkomposition zu unterscheiden, die bereits vorhandenen Melodien mehr oder weniger frei nachbilden. Im Westen ist davon noch das Verfahren der Kontrafaktur bekannt; die byzantinische Überlieferung kennt sehr viel weitergehende Verfahren, die schulmäßig angewandt wurden und noch heute angewandt werden.

Bei der Kontrafaktur (aus lateinisch contrafacere für nachbilden, nachmachen) wird eine vorhandene Melodie mit möglichst geringen Veränderungen einem neuen Text angepaßt, wobei auch völlig andere Texte unterlegt werden können, welche jedoch dem ursprünglich zugrunde liegenden Text hinsichtlich der Länge sowie der rhythmischen und Betonungsstruktur möglichst ähnlich sein müssen. Das führt in der Regel schon bei der Übersetzung eines Textes in eine andere Sprache zu Schwierigkeiten und zu der unersprießlichen Praxis, die Textgestalt der Zielsprache an die der Quellsprache anzupassen, um möglichst wenig an der vorgegebenen Melodie ändern zu müssen. Dadurch wird der Zielsprache nicht wenig Gewalt angetan und das Ergebnis ist entsprechend unbefriedigend.

In der sogenannten Irmologiké und bei den Kondakien wird die Choralmelodie der Vorlage nur noch als Muster und Grundstruktur benutzt. Sie wird dem anderen Text nicht nur angepaßt, sondern ihre Elemente werden dem Text und seinem Sinn gemäß neu kombiniert. Hier sind erhebliche Erweiterungen, Kürzungen und Veränderungen des Melos möglich. So entsteht der freie Strophengesang. Dieser wird einmal als eine metrisch gebundene relativ schnelle Gesangsweise (Irmologiké) für den Gesang der Troparien der Kanons nach einer Modellstrophe, dem Irmos, überliefert, zum anderen für die langsame Gesangsweise in der Art der frühen Kondakien; dort nennt man die Strophen Prosomia, zu deutsch „Ähnliche“. In beiden Fällen handelt es sich ursprünglich um eine Improvisationskunst, die in den orthodoxen Klöstern ebenso wie in Kathedral- und Gemeindekrichen praktiziert wurde. Daher rührt die zentrale Bedeutung des Chormeisters (Choregos) und der Handgestik (Cheironomie), mit der er den Chor führt, aber auch der häufige Sologesang über Ison in der liturgischen Praxis der orthodoxen Klöster.

Ein guter Sänger ist erst derjenige, der nicht nur nach Noten singen kann, sondern der 1. vielfältige Weisen kennt, die Neumen zu interpretieren und aus dieser Kenntnis heraus vorhandene Hymnen in angemessener Weise aussingen, d.h. ornamental erweitern kann, der 2. nach vorgegebenen Modellen Texte in Gesang umsetzen kann und der 3. frei improvisieren kann.

Im Gegensatz zum lateinischen Choral, der wesentlich aus den schriftlichen Zeugnissen lebt, ist die byzantinische Choralpraxis bis heute in hohem Maße lebendige Überlieferung, die von Lehrern unmittelbar an die Schüler weitergegeben wird, sozusagen „von Mund zu Ohr“. Das entspricht ganz und gar den Verhältnissen des geistigen Weges des orthodoxen Mönchtums überhaupt, denn auch dort sind es nicht in erster Linie die schriftlich fixierbaren Regeln und Normen, sondern vielmehr die lebenden Altväter, welche Geist und Leben der heiligen Überlieferung unmittelbar „von Mund zu Ohr“, und mehr noch im gemeinsamen Leben durch ihr Sein und ihre Lehre „von Geist zu Geist“ und „von Herz zu Herz“ weitergeben.

Die byzantinische Neumenschrift zeigt auch, anders als die heutige westliche, keine Tonstufen an, sondern Intervallfortschreitungen, welche zudem in sehr unterschiedlicher Weise ausgeführt werden können. Sie bedarf unbedingt der Interpretation und umfaßt eine teilweise erhebliche Bandbreite von Ausführungsmöglichkeiten. Vergleichbar ist im Westen allenfalls noch die Praxis der Ornamentierung und Verzierung in der Instrumentalmusik der Renaissance und des Frühbarock. Noch die konkrete Ausgestaltung der geschriebenen Hymnen kann von Landschaft zu Landschaft, von Kloster zu Kloster, von Sänger zu Sänger, und noch beim einzelnen Sänger von Gottesdienst zu Gottesdienst stark variieren. Dennoch spiegeln sich in allen Varianten dieselben grundlegenden Strukturprinzipien, das Gesetz der Harmonie des Alls sowie das verhältnis von Urbild und Abbild wider.

Schließlich kennt die byzantinische Tradition die Kunst der Melosbildung nach Neumengruppen. Das musikalische Material liegt in diesem Falle überhaupt nicht als abgeschlossene Melodie vor, sondern bildet lediglich einen lockeren Schatz von musikalischen Gesten, die aber jeweils einem bestimmten Ausdruck und bestimmten Modi angehören. Auch dieses „Verfahren“ ist ursprünglich eine Improvisationskunst, wird aber mehr und mehr zur schriftlichen Festlegung von Hymnen benutzt. Es steht gewissermaßen in der Mitte zwischen der geistgewirkten unmittelbaren Melos-Schöpfung „aus dem Wort“ und der etwas schulmeisterlichen Textumsetzung in Melos.

Daneben ist noch der Psalmengesang zu erwähnen, dessen Spektrum von den langsamen melismatischen, metrisch oder ametrisch auszuführenden Formen bis hin zur kleinen flüssigen stets metrisch gebundenen Gesangsweise reicht.

Historische Vorläufer des Deutschen Chorals

Eine deutsche Choraltradition hat sich im Mittelalter nicht entwickeln können, da die lateinische Kirche die deutsche Sprache im Kult nicht zugelassen hat, und vollends seit der Kirchenspaltung 1054 n. Chr. im zusehends römisch geprägten Westen ausschließlich das Lateinische als Liturgiesprache galt. Als mit der Reformation dann doch deutschsprachige Gottesdienste eingeführt wurden, war die Zeit des altkirchlichen Chorals im Westen schon vorbei. Andere, säkulare Musikformen bestimmten die Entwicklung. Zwar sind einige der frühen evangelischen Kirchenlieder durchaus den einfachen syllabischen Volksgesängen des orthodoxen Chorals, den Troparien, vergleichbar. Auch finden sich bei Luther und anderen noch vereinzelte Übernahmen älterer Melodien in Kontrafaktur, die sogar kirchentonal strukturiert sind. Insgesamt aber war der altkirchliche Choral, der ja aufs engste mit der monastischen Liturgie verbunden war, mit dem Mönchtum und der lateinischen Sprache zugleich abgeschafft worden.

Doch ist das bereits eine späte Stufe einer Entwicklung, die schon viel früher einsetzte. Durch die Erstarrung der Überlieferung und ihre Einschränkung auf das schriftlich fixierte Corpus des gregorianischen Chorals waren die eigentlichen Gesetze der Melosbildung ebenso wie die geistig-asketischen Zusammenhänge allmählich in Vergessenheit geraten. Durch die Überlagerung und Einbindung einzelner Choralstücke in mehrstimmige Kompositionen seit der Epoche der Hochgotik ging auch die ursprüngliche rhythmische Struktur des Chorals verloren. Der „kanonische“ Choral wurde mehr und mehr zur reinen Intervallabfolge „skelettiert“, wie er dann als cantus firmus in langen Notenwerten der metrischen Struktur der Kompositionen angepaßt wurde. Das führte dazu, daß sich im Laufe der Jahrhunderte auch dann, wenn man „nur“ Choral sang, diese eingeebnete Form durchsetzte. Man spricht in dem Zusammenhang vom „planierten Choral“. Der gregorianische Choral war schließlich völlig von den Formen der Kirchenkomposition verdrängt, die sich im Westen seit der Renaissance herausgebildet hatten und die sich zuletzt in keiner Weise mehr von der weltlichen Musik der jeweiligen Zeit unterschieden, außer im Text und hinsichtlich der Auftraggeber. Wenn etwa E.T.A Hoffman im Sinne der Romantik über Kirchenmusik schreibt, denkt er überhaupt nicht mehr an den Choral, sondern ausschließlich an zeitgenössische Werke.

In der Folge der Romantik und des wachsenden Geschichtsbewußtseins im 19. Jahrhundert begann man den gregorianischen Choral wieder neu zu entdecken. Die Kirchenromantik, etwa bei Novalis, idealisierte das mittelalterliche Kirchentum, hat jedoch ausschließlich dessen westliche, römische Form im Blick. Auf kirchenmusikalischem Gebiet entstand damals die Bewegung des Cäcilianismus, in der man unter anderem eine Erneuerung des mittelalterlichen lateinischen Chorales anstrebte. Dabei galt zunächst, dem Verständnis der Zeit entsprechend, der planierte Choral als Standard des Chorals schlechthin, und die entsprechende musikalische Praxis blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein prägend. Von diesem Mißverständnis ausgehend entwickelte man entsprechende Theorien von der „spirituellen Abstraktion“ des Chorals, was bestimmten Tendenzen der westlichen Theologie und Kirche jener Zeit (19. Jh.) durchaus entgegen kam.

Schon früh gab es dann Versuche, die lateinische Gregorianik mit deutschsprachigen Übersetzungen zu unterlegen. Doch blieb diese „Adaption der Gregorianik“ auf die deutsche Sprache nur ein Nebengeleis. Dabei wurden den gregorianischen Melodien ohne weitere Anpassung einfach deutsche Texte unterlegt. Da man die lateinischen Melodien als „kanonisch“ und also als unantastbar betrachtete, und da auch die inneren Strukturgesetze des Chorales noch nicht erforscht waren, den man durchaus im Sinne der Romantik auffaßte, geschah diese Unterlegung völlig mechanisch. Diese Vorgehensweise zerstört freilich die Verbindung von Wort und Melos, die doch für den ursprünglichen Choral so wesentlich ist. Das Problem wurde aus den oben erwähnten historischen Gründen überhaupt nicht wahrgenommen, von der Symbolik der Neumen und ihren geistigen Bezügen ganz zu schweigen. Die Frage der Übereinstimmung der musikalischen mit den sprachlichen Akzenten sowie der musikalischen mit der sprachlichen Syntax stieß allerdings spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht wenigen praktizierenden Kirchenmusikern als Problem auf. Schließlich hat sich die semasiologische Forschung, die im Bereich der lateinischen Kirche am gregorianischen Choral vorgenommen wurde, dieser Zusammenhänge angenommen und ihre Erforschung wurde auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Inzwischen ist allgemein bekannt, daß auch in der Gregorianik der Sprachduktus und die Sprachbetonung Grundlage der Melosbildung war, und daß der lateinische Choral eine hoch differenzierte rhythmische Struktur besaß, die sich nicht in einfachen metrischen Schemata einfangen läßt.

Für die Adaption der Gregorianik ins Deutsche hatte das freilich frustrierende Folgen, denn sie war nun von der Sache her unmöglich, und damit hinfällig geworden. Immerhin hatte sich in einigen Klöstern neben dem lateinischen Choral eine deutschsprachige Choralpraxis durchgesetzt, die jedoch über die einfachsten syllabischen Formen nicht hinausging. Insgesamt wurde der Gottesdienst der westlichen Kirche in der Praxis, zumal nach dem römischen Konzil (Vaticanum II), stark vom Protestantismus geprägt und man benutzt andere, modernere, musikalische Formen.

Eine entgegengesetzte Situation und Entwicklung ist hingegen in den orthodoxen Kirchen zu beobachten. In Griechenland, Bulgarien und Rumänien wurde seit jeher der altkirchliche Choral gepflegt. Zwar gab es auch hier Entwicklungen, wie z. B. die Choralreform des 19. Jahrhunderts im griechischen Bereich oder besonders die Entwicklung in Rußland, die stark der im Westen gleicht. Dennoch kann man von einer (relativ) ungebrochenen Überlieferung sprechen. Seit den 80-er Jahren findet gerade in Rußland eine überwältigende Neuhinwendung zu den älteren Choraltraditionen statt. In Georgien, Serbien, im Libanon und im vorderen Orient gibt es analoge Bewegungen. So besitzt die orthodoxe Christenheit ein enorm breites Spektrum verschiedener Formen des Kirchengesanges, von den Bemühungen um historisch authentische Rekonstruktionen bis hin zu Neuschöpfungen, die sich wieder bewußt an alte und älteste Überlieferungen anlehnen. Diese Entwicklung ist keineswegs auf die Klöster beschränkt, sondern wird ebenso von Gemeinden, Diözesen und eigenständigen Instituten getragen.

Die Choraltradition im Heiligen Dreifaltigkeitskloster

Analog ist im Heiligen Dreifaltigkeitskloster eine deutsche orthodoxe Choraltradition entwickelt worden, die von vornherein die deutsche Sprache zu Grunde legt und deshalb als Deutscher Choral bezeichnet wird. Wegen der asketischen und theourgischen Dimension des Gottesdienstes war auch hier die Entscheidung für eine der altkirchlichen Choralpraxis adäquaten Tradition unabdingbar.

Wesentliche Vorbilder zur Entwicklung dieser Gesangstradition sind der byzantinische und der altbulgarische Choral. Daß daneben auch der im Westen vorhandene Kultgesang, die Gregorianik, eine Rolle zu spielen hatte, und daß man sinnvollerweise die Erfahrungen der vorangegangenen Generationen mit der „Adaption der Gregorianik“ nutzte, ergab sich aus der Geschichte und von der Sache her. Voraussetzung dieser Arbeit war der glückliche Umstand, daß durch den orthodoxen Blick auf die frühchristliche Vielfalt der Choraldialekte der christlichen Völker das allen gemeinsame Urbild viel leichter faßbar war, als es sonst im Westen noch eine Generationen vorher der Fall war, wo der Begriff „Choral“ noch ausschließlich „Gregorianik“ bedeutete. So konnten die Ansätze der „deutschen Gregorianik“ und ihr relatives Scheitern völlig neu gewertet werden und ein grundsätzlicher Neuanfang beginnen, indem neben der lateinischen vor allem byzantinische und altslawische Choral-Traditionen einbezogen wurden.

Die Entwicklung des Deutschen Chorals auf der Grundlage der orthodoxen Liturgie begann bereits 1977 mit der Niederschrift des Wahrhaft Würdig und einer Kontrafaktur des Lobe den Herrn meine Seele nach dem altrussischen Snamnije Rospew, dann systematisch seit 1981 auf dem Heiligen Berg Athos und seit 1990 im neu gegründeten Heiligen Dreifaltigkeitskloster zu Buchhagen.

Daß die einfache Adaption von der Sache her unzulänglich ist, wurde im Zusammenhang mit den Versuchen der Adaption der Gregorianik für die deutsche Sprache schon aufgezeigt. Das gilt selbstverständlich in gleicher Weise für griechische, arabische, slawische und andere Choralmelodien. Hingegen geben die ebenfalls oben beschriebenen traditionellen Verfahren der Gesangsimprovisation und der Hymnographie unter freier Verwendung vorhandenen melodischen Materials, wie sie in der byzantinischen Choraltradition seit jeher gebräuchlich sind, dem erfahrenen Musiker hervorragende Möglichkeiten an die Hand. Freilich setzt diese Arbeit neben den musikalischen Fähigkeiten ein fein ausgeprägtes Sprachgefühl voraus.

Die einfache Kontrafaktur eignet sich durchaus für syllabische Gesänge, doch sind ihr enge Grenzen gesetzt. Sobald die syntaktische Struktur der Ausgangs- Sprache von der des Deutschen abweicht, wird sie untauglich. Eine Verbiegung des Deutschen, um dem abzuhelfen, verbietet sich aus Gründen der Sprachkultur.

Die freie Nachbildung nach überliefertem melodischen Material, bis hin zur Improvisation setzt voraus, daß die inneren Strukturgesetze und melosbildenden Prinzipien des Chorales erfaßt und souverän gehandhabt werden. In gleichem Maße gilt dies für die Bildung und Aufzeichnung neuer Choralmelodien. In letzterem Falle werden in der „Musiksprache“ des Chorales unmittelbar aus dem deutschen Text heraus neue Melodien gebildet. Die Mühe lohnt sich in jedem Falle, denn nur so gewinnt man einen echten neuen Choraldialekt, dessen Melosbildung der Syntax der deutschen Sprache folgt, dessen musikalische Betonungen von vornherein richtig auf den sinntragenden Silben des deutschen Textes sitzen, und der darüber hinaus die melodischen Figuren, Neumen, Intervalle, die Ordnung der Tetrachorde sowie ggf. Isonwechsel in sich stimmig, d. h. symbolisch, mystagogisch und musikalisch sinnvoll, einzusetzen vermag. Sobald man den „geistigen Code“ des alten Chorals auf der Grundlage einer lebenden Sprache erneuert, bieten die ihm immanenten Gesetze auch in geistiger Hinsicht wieder eine gewisse Sicherheit und Gewähr für die getreue Umsetzung der urbildlichen Wirkkräfte in akustisches Geschehen. Wo das himmlische Urbild sich im Abbild widerspiegelt, atmet dieser Gesang denselben Geist wie die alten Choraltraditionen und hat die gleiche mystagogische Kraft. Wie jene ist auch dieser ein unmittelbares „wahres Abbild“, authentische Ikone des Gesangs der Engel. So tritt der Deutsche Choral als ein frischer grüner Zweig am uralten Baum altchristlicher Hymnik an die Seite der klassischen alten Choraltraditionen. Dadurch gewinnt auch das Deutsche im Sinne der altkirchlichen Liturgik wieder die Würde einer „heiligen Sprache“.

Die Notation des Deutschen Chorals

Der Deutsche Choral wird im Dreifaltigkeitskloster in einer linierten Neumenschrift aufgezeichnet. Grundlage ist die bekannte lateinische Choralnotation von Solesmes, die jedoch erheblich erweitert wurde. Neben den klassischen Quadratneumen und Rauten zur Darstellung von Einzeltönen werden überwiegend Mehrton-Neumen benutzt, die mit einfachen graphischen Figuren dargestellt werden. Diese Neumen erfassen ganze musikalische Figuren von mehreren Tönen mitsamt ihrer rhythmischen Struktur. Sie verbinden so die Funktion der diasthematischen westlichen Neumen mit denen der so genannten „großen Zeichen“ der älteren byzantinschen Handschriften vor der Choralreform. Außerdem gibt es eine Reihe liqueszierender und ornamentaler Neumen, die feinste sangliche Differenzierungen aufzuzeichnen gestatten, wie sie dem Deutschen Choral eigen sind, der hierin dem byzantinischen und orientalischen Gesang vergleichbar ist, und wie sie auch in der älteren westeuropäischen Musik eine große Rolle spielten.

Das inzwischen notierte Corpus des Deutschen Chorals besteht aus dem Ordinarium des orthodoxen Tagzeitengebetes, der göttlichen Liturgie, sowie den Festgesängen der Hochfeste und weiteren Hymnen.

Der Psalmengesang im Deutschen Choral

Dazu kommen die Modelle zum Singen der Psalmen. Die Anpassung des Textes an vorhandene Modelle wurde auch hier als sprachlich unbefriedigend verworfen. Der andere Weg, analog zu der Neukomposition des Ordinariums und der Festhymnen neue Psalmtöne zu schaffen, erwies sich in der Praxis als hohe Herausforderung und nahm letztlich Jahrzehnte in Anspruch. Zwar ist die Grundstruktur zunächst einfach und ergibt sich aus der Sprache selbst: während die lateinische Psalmodie fest gefügte Modelle hat, deren melodische Floskeln am Anfang und am Schluß der Verse nach Silbenzahl einsetzen, benötigt das Deutsche flexible Modelle, bei denen eigene „Betonungsneumen“ auf die jeweils betonten Textsilben gesungen werden können. So ergeben sich zwischen den Betonungsneumen kürzere oder längere Rezitativräume, aber auch am Schluß oder am Anfang des Verses. Über 20 Jahre hindurch wurden die Modelle in der täglichen liturgischen Praxis des Klosters immer weiter ausgearbeitet.

Inzwischen gibt es drei ausgeprägte Gattungen des Psalmengesangs: 1.) die metrisch gebundenen „Kleine Psalmodie“, wie bei den Lichtpsalmen der Vesper und den Lobpsalmen am Schluß des Orthros, 2.) die große metrisch-melismatische Psalmodie, die hauptsächlich in den Nachtwachen an den Hochfesten gebraucht wird, und 3.) die sogenannte „Große Psalmodie“, in der wenigstens ein Drittel der täglichen Kathismenpsalmen gesungen werden. Die dritte Gesangsart folgt gregorianischen Vorbildern. Die beiden ersten orientieren sich an Vorbildern des Heiligen Berges Athos, sind teilweise direkte Übernahmen.

So gewinnt das Singen der Psalmen im Deutschen Choral eine ganz neue, und doch eigentlich uralte Freudigkeit und Stimmigkeit.