Heiliger Gesang

Zur Symbolik des sakralen Gesangs über Ison
von Archimandrit Johannes

Ison nennt man den Grundton eines Hymnos oder Psalmengesangs, der diesem wie ein Bordun als Liegeton unterlegt wird. In der byzantinischen Choralnotation wird mit diesem Wort auch die Neume für die Tonwiederholung bezeichnet. Ison bedeutet „der Gleiche“.

In größeren Hymnen folgt der Ison den Tetrachorden; d.h. sobald die Melodie sich in den oberen Tetrachord bewegt, singt man den Grundton dieses Tetrachordes. Auch weitere Isonwechsel sind als Möglichkeit musikalischen Ausdruckes möglich und werden in der Praxis angewandt. Dennoch bleiben der Charakter und die Symbolik des Ison gleich: er bildet stets eine dauerhafte harmonikale Basis für das Melisma, das sich über ihm und um ihn bewegt. Deshalb darf im klassischen Choral der Ison nicht häufig und schon gar nicht dauernd gewechselt werden. Auch dissonante Intervalle zwingen keineswegs zum Isonwechsel. Im Gegenteil wird durch die Schärfe mancher Intervalle im Verhältnis zum Ison der Charakter des Modus erst erkennbar.

In seinem harmonikalen Zahlenwert entspricht der Ison der 1, ist also Bild des Anfangs, des Ursprungs und somit Symbol des ewigen Urgrundes, Gottes selbst. Da der Ison in sich alle Möglichkeiten birgt, aber selbst noch vor der Entfaltung in musikalisches Melos steht, ist er Symbol des jungfräulichen Urgrundes des Seins am Vorabend der Schöpfung: „Der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ heißt es im Buch der Schöpfung. So ist der Ison näherhin Symbol Gottes des Vaters, des Schöpfers, des unerkannbaren und unsagbaren Urgrundes. In dem, was in ihm spürbar mitschwingt, ist er Symbol der dritten Gestalt der Gottheit, des Heiligen Geistes. Auch in der christlichen Zahlensymbolik ist die 1 mit der 3 implizite ausgesagt und mit der 1 notwendig die 3, denn die heilige Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Geist ist ja der eine Gott in drei Gestalten (Hypostasen), unteilbar und unvermischt.

Ein serbischer Altvater der Neuzeit drückte anläßlich einer geistlichen Synaxe in einem Athoskloster die Zusammenhänge mit den Worten aus: „der Ison in der byzantinischen Kirchenmusik ist der Erweis der apophatischen Theologie der orthodoxen Kirche“.

Sobald nun das Melisma sich aus dem Ison erhebt, tritt im Symbol die zweite Gestalt der göttlichen Dreiheit hinzu, der Logos, das Ewige Wort. Am Anfang des Johannes-Evangeliums heißt es: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Alle Dinge sind durch daßelbe gemacht, und ohne daßelbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In Ihm ist das Leben, und das Leben ist das Licht der Menschen“. Sobald das Wort über „die Wasser des Anfangs“ kommt, tritt alles ins Sein. Das Wort hat schöpferische Allmacht. „Gott schuf alle Dinge durch Sein Wort“. Das Wort ist auch Gott in Seiner Fleischwerdung, der ewige Logos, der das Leben bringt. Das Melos des Chorals erwächst auf allen Ebenen aus dem Wort, bis hin zur natürlichen Betonung und Syntax der Sprache. Doch erschöpft es sich nicht in seiner äußeren Gestalt, sondern ist analoger Träger der urbildlichen Dimension des heiligen Textes. Diese ist in diesem an und für sich sehr wohl schon enthalten und erschließt sich dem betenden Leser im Heiligen Geiste. Aber im Melos liegt zugleich ein zweiter, unmittelbarerer Weg Seiner „Fleischwerdung“. Das Choralmelos ist idealiter „Widerhall des Wortes vor allen Wörtern“, der Gedanken Gottes, die sich wiederum in geistiger Schau als Urbilder des Seienden und Möglichkeiten des Werdens darbieten.

Die Harmonie des Choralmelos besteht, vor allen musiktheoretischen Erwägungen, im Gleichklang der geistigen Energien und Kräfte mit den göttlichen Gedanken und Urbildern. So bildet das Verhältnis des Melos zum Ison die ewige Rückbindung (religio) des Gestaltgewordenen Seins zum Urgrund allen Seins ab.

In diesem Zusammenspiel des Ison mit dem Melos wiederum offenbart sich zugleich das dritte, das gleichwohl im einen wie im anderen schon enthalten ist. Jesus sagt im Johannes-Evangelium: „Ich und der Vater sind eins“ und „Wer mich sieht, sieht den Vater“. Dieses „Sehen“ aber wird erweckt im Heiligen Geist. Als Simon Petrus zu Jesus sagt: „Du bist der Gesalbte, der Sohn des lebendigen Gottes“, antwortet der Herr: „Selig bist du, Simon Petrus, denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ (Matth.XVI,16ff.) Der Geist wird dort nicht direkt genannt, aber Er ist es ja, der jede geistige Erkenntnis erweckt, Er wirkt durch Seine Einwohnung im Menschen und teilt die göttliche Gnade und Kraft mit. Erst an Pfingsten konnten die Apostel in der „Ursprache“ sprechen, und das heißt zugleich: in allen Sprachen der Welt. So wie der Geist Gottes über den Wassern des Uranfangs schwebt, so wie der Geist Gottes das Ewige Wort und den Vater erkennen läßt, so bewegt Er das heilige Liebes-Spiel der Kräfte. Er ist der Allgegenwärtige und alles erfüllende, liebende, ewige Gott. Im Wesen (kat ousian) ist Er eins mit dem Vater und dem Sohn; in der Gestalt (kat ypostasin) ist Er einzigartig und eigenständig, ebenso wie der Vater in sich und der Sohn in sich. So ist die Heilige Dreiheit unvermischt und ungeteilt, der eine Gott in drei Gestalten.

In der Rezitation der heiligen Texte tritt der Ison rein hervor. Jeder liturgische Vortrag geschieht auf einem immer gleichen Ton, dem Symbol des ewigen Urgrundes, und erweist so den rezitierten Text als heilig, als Wort des Vaters, als geistgewirktes Wort der ewigen Kirche.

Wenn in den Gottesdiensten der Ison gesungen wird, so hat dies nicht allein eine musikalische Bedeutung. Der Mönch, ebenso wie der weltliche Kirchensänger, lernt, mit dem Ison das geistige Gebet zu verbinden. Es gibt einen geheimnisvollen inneren Bezug zwischen der Praxis des geistigen Gebetes und dem Ison, der nicht einfach automatisch durch die musikalische Praxis des Isons gegeben ist, obwohl der Ison genau diese geistige Potenz in sich birgt, sondern immer auch vom Bewußtsein und der rechten inneren Haltung, der geistigen Ausrichtung und Wohlspannung des Sängers abhängt. Der Ison als bloß äußerlich, „fleischlich“ gesungenes akustisches Phänomen ermangelt noch der geistigen Durchlichtung. Ob das Symbol wirkmächtig wird, das liegt am Sänger und am Heiligen Geist und an beider Zusammenspiel.

Das gilt für den heiligen Gesang insgesamt, ebenso wie für alle anderen Disziplinen der Theourgie. Der Sänger, der Akolyth, der Diakon, der Priester, jeder anwesende Mönch, alle müssen doch den geistigen Sinn erfassen und im Melos wie im heiligen Vollzug durchtragen, auf daß durch die Worte das Ewige Wort durchschimmere. Dann zieht der geisterfüllte Gesang den Schleier des äußerlichen Verständnisses fort und öffnet Herz und Geist zur Schau des Sinnes und der Urbilder.