Heiliger Gesang
Deutscher Choral – Schöpfung aus dem Wort
Die historisch junge Gesangstradition des heiligen Dreifaltigkeitsklosters ist in Geist und Wesen archaisch. Sie baut auf ältesten christlichen Überlieferungen
auf; ihre Wurzeln liegen hauptsächlich im byzantinischen Choral, aber auch in der Gregorianik und weiteren Gesangstraditionen der christlichen Völker. Melos
und Rhythmus dieser Gesänge entfalten sich unmittelbar aus dem Wort, konkret aus der Sprachstruktur des Deutschen. Dahinter steht das Urwort, das Ewige
Wort selbst (Joh. I, 1-18). Der archaische Charakter des deutschen orthodoxen Kultgesangs gründet, jenseits von Historie, Moderne oder Postmoderne, in der
Ewigkeit. Die faszinierende Unmittelbarkeit des Wortes aber gründet in der deutschen Sprache.
Altvater Johannes hatte sich schon während seines Musikstudiums in den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts um einen archaischen Kirchengesang in
deutscher Sprache bemüht. Dabei war er ursprünglich von den Bemühungen um eine „deutsche Gregorianik“ ausgegangen, um die man sich in der
liturgischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts in beiden westlichen Konfessionen bemührt hatte und wie sie etwa im Spandauer Psalter von Ernst
Pepping forgeführt worden waren. Mit der Konversion zur Orthodoxie kristallisierte sich als konkretes Ziel dieser Arbeit die Aufgabe heraus, eine
Gesangstradition für den orthodoxen Gottesdienst in deutscher Sprache zu finden. Durch die Beschäftigung mit dem altrussischem Choral (snamnije rospev),
vor allem aber durch die Begegnung mit dem byzantinischen Choral 1979, weitete sich der Blick erheblich, und damit die Möglichkeiten der Schöpfung einer
Choraltradition aus dem heiligen Wort. Dieser Ansatz wurde durch das Mönchsleben auf dem Heiligen Berg Athos vertieft und erhielt mit der Gründung des
deutschen orthodoxen Klosters zusätzlichen Schub. Letztlich können natürlich alle irgend zugänglichen authentischen Gesangstraditionen der christlichen
Völker Vorbilder des Deutschen Chorals sein. So trat etwa seit 2008 der georgische Kirchengesang mit seiner archaischen Dreistimmigkeit und seinem völlig
anderen musikalischen System in den Blick. Freilich stand und steht für Altvater Johannes bei dieser Arbeit immer das Gotteswort im Mittelpunkt, nicht
zuletzt in seinen metaphysischen Dimensionen. Urbild des Chorals ist ja der Gesang der Engel. Diesem Urbilde nahezukommen, darin besteht für den
orthodoxen Mönch das höchste Streben.
Melos und Rhythmus dieser Gesänge entfalten sich unmittelbar aus dem Wort, konkret aus der Sprachstruktur der heiligen Texte der Bibel und der Liturgie
der orthodoxen Kirche. Die musikalische Struktur ergibt sich einerseits aus immanenten musikalischen Strukturprinzipien, wie sie im altkirchlichen Choral
allgemein gegeben sind (Kirchentonarten, Tetrachordstrukturen, kreisende Bewegungen um feste Zentraltöne, symbolhafte Gesten und Intervalle),
andererseits aus der Struktur der Sprache selbst. Betonung, Syntax und Wortmelodie des Deutschen geben die Melosbildung des Chorals vor. Im Choral sind
Wort und Melos eins. Eine Choralmelodie mit anderem Text zu unterlegen ist daher nicht ohne weiteres möglich, sondern erfordert stets eine musikalische
Anpassung und Umgestaltung von der neuen Wortgestalt her.
Auch der liturgische Ort, also die Stellung der Gesänge im Ablauf der Theourgie, beeinflußt die Gestalt der Gesänge. Die vom Offenbarungsgehalt der
heiligen Texte und von der liturgischen Situation herrührende Bewegung des betenden Menschen im Angesicht des lebendigen Gottes schwingt ganz natürlich
mit, gewissermaßen als Sensor des mystagogischen Fortganges der Liturgie. Es ist die göttliche Mystagogie selbst, die Hinführung zum Mysterium, geistiger
Aufstieg durch überzeitliche Räume und entrücktes Verweilen und Kommunizieren dort, was sich in Spannungsniveau, Ambitus und Stimmung des Chorals
widerspiegelt und die übergeordnete musikalische Architektur des Gottesdienstes vorgibt. So ist z.B. das Prokimenon, die liturgische Einleitung zu den
Lesungen aus der Heiligen Schrift, musikalisch als Tor ausgebildet, blockhaft und fließend: im Kontrast zwischen mehrstimmigem homophonen Kehrvers
(Efymnion) und frei melismatisch fließendem Psalmenversen des Vorsängers wird das Prokimenon Grenze und Durchgang zugleich. Der cherubische
Hymnos zum Beginn des Mysterienteiles der göttlichen Liturgie hingegen ist reinster Mysteriengesang, hochmelismatisch, durch den obertönig gestimmten
phrygischen Modus zum himmlischen Heiligtum erhebend. Reinigung, Grenzüberschreitung und Erhebung leiten in mehreren Stufen über zur geistigen
Schau. Der befreite, erhobene Geist schreitet mit dem Priester, der die heiligen Gaben ins Allerheiligste trägt, zum oberen Altar.
Hinter all dem steht das Urwort, das Ewige Wort selbst (Joh. I, 1-18). Schließlich ist Sprache, heilige Sprache zumal, Bild und Widerhall des allerschaffenden
Ewigen Wortes, das bei Gott und zugleich Gott ist, im Geheimnis der göttlichen Dreiheit. Dieses Wort ist das eigentliche „Urwort“, vor allen Worten. Es
erscheint auch als Proportion, Harmonie, Klang und Melos. So ist der Choral keine bloße „Hinzufügung“ oder „Vertonung“ des Textes, sondern selbst
analoger und unmittelbarer Ausdruck des Urwortes, der die Worte der irdischen Sprache füllt, belebt und erhebt, wie die Seele den Leib.
Der Deutsche Choral kennt unterschiedliche rhythmische Gattungen, welche, genau wie im byzantinischen Choral, jeweils bestimmten liturgischen
Textgattungen zugeordnet sind. Die meisten Stücke sind einstimmig über Ison; größere können am Ende oder an hervorzuhebenden Textstellen gelegentlich
in die Dreistimmigkeit aufgefächert werden. Dazu treten seit AD 2008 dreistimmige leicht polyphone Gesänge in kirchentonaler Harmoniegebung, die sich
aber durch die Naturtönigkeit deutlich von der gewohnten Mehrstimmigkeit abheben. Das sind vor allem die Fürbittantworten (Kyrie eleison; Gewähre o
Herr; Allheilige Mutter Gottes errette uns; Dir o Herr; Amen), die Prokimena (das sind die antiphonalen Psalmengesänge vor den Lesungen) und Festgesänge
wie das „Christ ist erstanden“oder „Wir preisen dich selig“.